Holocaust
Im heutigen allgemeinen Verständnis bezeichnet der Begriff Holocaust die massenhafte, systematische Vernichtung von europäischen Juden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. Damit wird er nur noch selten für die Gesamtheit an politisch initiierten Massenmorden und fast gar nicht mehr in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendet.
Herkunft des Begriffes
Die Übernahme des Wortes Holocaust in den mitteleuropäischen Sprachraum basiert auf der buchstabengetreuen Übertragung eines Begriffes aus dem Griechischen. Hier bezeichnen das Substantiv „holokautoma“ und das Adjektiv „holókauston“ etwas vollständig Verbranntes bzw. dessen Überreste. In dieser Bedeutung findet es erstmals bei Xenophon Erwähnung. Der griechische Historiker verwendete das heutige „Holocaust“ erstmals im Zusammenhang mit religiös bedingten Tierschlachtungen.
Auch in der hebräischen Bibel Tanach tauchen die Worte „holokautoma“ und „holókauston“ auf; hier werden sie mehrfach synonym für „olah kalil“ – „Das, was ganz in Rauch zum Himmel aufsteigt“ – verwendet und umschreiben ebenfalls das Verbrennen von Tieren als Gottesgeschenk.
Hinweise darauf, dass es sich dabei genauso um menschliche Körper handeln könnte, finden sich dagegen nur ein einziges Mal: an der Stelle, an der Gott Abraham auffordert ihm zum Beweis seiner Liebe seinen Sohn Isaak darzubringen, wird dieser als „Brandopfer“ bezeichnet. Im Zuge der lateinischen Bibelübersetzung des 4. Jahrhunderts wurden die griechischen Wörter beibehalten und durch die Schreibweise „holocaustum“ ersetzt. Ungeachtet dessen, dass es sich hierbei lediglich um eine Lateinisierung handelte, übernahmen sowohl Engländer als auch Franzosen diese Version.
Sukzessiver Bedeutungswandel
Nachfolgend ging von dieser sprachlichen Quelle auch die Bedeutungswandlung des Begriffes aus. Der englische Chronist Roger of Hoveden beschrieb die gegen Londoner Juden gerichteten gewaltsamen Ausschreitungen des Jahres 1189 als „Holocaustum“. Damit wurde das Wort erstmals für die Tötung einer größeren Anzahl Menschen verwendet. Auch der italienischsprachige Jurist Andrea Alciati wandte es 1515 bei seiner Kritik an der Hexenverfolgung auf die Vernichtung einer Minderheit an.
Trotzdem „holocaustum“ durch die Lutherbibel etwa zeitgleich eine sinnentsprechende Übersetzung fand, galt der ursprüngliche Begriff weiterhin als gängige Bezeichnung für Vorfälle, die mit Flammen in Verbindung standen: egal ob Großfeuer, Selbstmorde, Brandschatzungen oder Weltuntergangsszenarien – immer wieder war in diesem Zusammenhang von einem Holocaust die Rede. Diese symbiotische Verquickung hielt sich bis weit ins 19. Jahrhundert; kam aber zunehmend für Katastrophen größeren Ausmaßes mit einer hohen Zahl von Opfern zur Anwendung – besonders häufig für die organisierten Massenmorde an unzähligen Armeniern in den Jahren 1895 und 1896.
Während eines US-weiten Aufrufs zur Hilfe für hungernde Osteuropäer wurde der Begriff 1919 erstmals außerhalb seiner bisherigen Bedeutung als Flammenszenario verwendet (Gouverneur Martin H. Glynn: „In diesem drohenden Holocaust menschlichen Lebens sind alle philosophischen Feinheiten vergessen.“). Doch erst, nachdem Winston Churchill die im Ersten Weltkrieg auf dem Boden des Osmanischen Reiches stattgefundenen Massaker und Todesmärsche als „administrativen Holocaust“ bezeichnet hatte, bekam der Begriff endgültig die Bedeutung des organisiert verübten Völkermordes.
Endgültige Etablierung
In Zusammenhang mit den Judenpogromen der nationalsozialistischen Herrschaft brachten ihn zunächst die obersten Rabbiner des damaligen Palästina. Ihr Bemühen um die Einführung eines Gedenktages an die so genannte Kristallnacht vom November 1938 war von der Wortschöpfung „Synagogenholocaust“ begleitet. Nachfolgend nahmen etliche Zeitungen den Begriff Holocaust in ihre Berichterstattung über Hitlers Machenschaften hinsichtlich seiner rassistischen Verfolgungspolitik auf; die „News Chronicle“ vom 05. Dezember 1942 benutzte ihn sogar als augenfällige Überschrift in Großbuchstaben.
Obwohl das Wort vereinzelt auch noch auf nichtjüdische Opfer angewandt wurde, setzte es sich zum Ende der 1950-er Jahre immer mehr als Synonym für die planmäßig durchgeführte Ermordung von mehr als 5,5 Millionen Juden durch. Zur endgültigen Etablierung in ausschließlich dieser Verwendung trugen das Buch „Die Akte Odessa“ von Frederick Forsyth und der US-amerikanische Fernsehfilm „Holocaust“ aus dem Jahr 1978 bei.
Eingrenzung des Begriffs
Der konkrete Beginn des solcherart definierten Holocaust ist unter Historikern umstritten. Während einige ihn im Feldzug gegen Polen und den ersten Ghettoisierungen, Deportationen, Massenerschießungen und vereinzelten Vergasungen sehen, setzen andere ihn mit der Eröffnung des Krieges gegen die Sowjetunion und der flächendeckend einsetzenden systematischen Vernichtung gleich. Da die Morde in unterschiedlichem Tempo und zeitlich versetzt geschahen bzw. teilweise auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurden, lassen sich „Konzeption, Entscheidungsbildung und Durchführung nicht immer klar abgrenzen“ (Peter Longerich in „Politik der Vernichtung: Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung.“).
Aufgrund des heute bekannten Verlaufs und zahlreicher erhalten gebliebener Dokumente gilt es als gesichert, dass es für den systematischen Völkermord seitens der NS-Regierung kein vorher feststehendes Gesamtkonzept gab.
Chronologische Abfolge
Die chronologische Abfolge umfasst neben den bereits erwähnten Repressalien auf polnischem Gebiet mehrere aufgestellte und wieder verworfene Pläne. Dazu zählen die Umsiedlung sämtlicher Juden nach Madagaskar oder deren Abschiebung in lebensfeindliche Regionen der Sowjetunion. Erst als sich das Fassungsvermögen der Ghettos und Arbeitslager zu erschöpfen drohte und es zunehmend weniger unbesetzte Gebiete gab, in die die Juden hätten verdrängt werden können, sannen die Verantwortlichen auf radikalere Lösungen und verfielen auf die Einrichtung spezieller Vernichtungslager.
Dennoch werden bereits die Ghettoisierung, die Ausgrenzung vom gesellschaftlichen Leben, das Vorenthalten von Bildung und Kultur sowie die vielfach vorgenommenen Zwangssterilisationen der gezielten Vernichtung zugerechnet, da hierdurch sämtliche lebenden Juden ausgelöscht werden sollten.
Die im Zusammenhang mit dem ab 1944 einsetzenden Rückzug beginnende Auflösung der Lager bzw. die damit einhergehenden erneuten Massenerschießungen und so genannten Todesmärsche zählen nach Auffassung einzelner Experten nicht zum Holocaust. Als Begründung geben sie an, dass diese Maßnahmen keiner zentralen Anordnung folgten und sich nicht mehr ausschließlich gegen Juden richteten (vgl. hierzu Eberhard Kolb „Die letzte Kriegsphase“ und Karin Orth „Planungen und Befehle der SS-Führung zur Räumung des KZ-Systems“). Andere dagegen bezeichnen sie als Endphase-Verbrechen, „die als Fortsetzung des Systems … zu sehen sind“ (Katrin Greiser in „Die Todesmärsche von Buchenwald. Räumung des Lagerkomplexes im Frühjahr 1945 und Spuren der Erinnerung.“).