Globalisierung in Nordamerika
Nordamerika wird häufig mit den Vereinigten Staaten von Amerika gleichgesetzt. Dabei wird vergessen, dass es sich bei Nordamerika nicht um ein Land, sondern um einen Kontinent handelt. Nordamerika ist der nördliche Teil des amerikanischen Doppelkontinents und der drittgrößte Kontinent der Welt. Die Länder Nordamerikas bieten eine erstaunliche Fülle unterschiedlicher Kulturen und eine immense landschaftliche Vielfalt. Wenn man über Globalisierung in Nordamerika sprechen will, dann muss man zunächst dieser Vielfalt gerecht werden.
Von den Jungferninseln bis Grönland
Nordamerika umfasst neben der großen Landmasse des eigentlichen Kontinents eine ganze Reihe von Inseln im Pazifik, in der Karibik und im Atlantik. Der Kontinent erstreckt sich von Kanada zentralamerikanischen Staaten Guatemala, Honduras, Costa Rica, Puerto Rico und Nicaragua. Die Inseln reichen von Hawaii oder Kuba bis Grönland. Auch Panama und der für die weltweite Schifffahrt immens wichtige Panamakanal gehören zu Nordamerika. Die Länder und Inseln sind teils souveräne Staaten, teils noch immer französisches, britisches oder im Falle Grönlands, dänisches Hoheitsgebiet. Insgesamt leben hier fast 530 Millionen Menschen. Die bevölkerungsreichsten Länder sind Kanada, die Vereinigten Staaten von Amerika und Mexico. Die französisch sprechenden Einwohner Haitis und Kubaner spanischer Herkunft sind geographisch ebenso Nordamerikaner wie grönländische Inuit.
Außenwirkung und innerer Wandel
Im Zentrum von Nordamerika stehen die Vereinigten Staaten von Amerika, die einzige verbliebene Weltmacht, deren ökonomische und kulturelle Einflüsse nicht nur in Nordamerika, sondern in der ganzen Welt allgegenwärtig sind. Kein anderes Land der Welt eignet sich besser, um den Begriff der Globalisierung zu veranschaulichen. Die Entstehung der USA kann als eine Art Urmythos der Globalisierung beschrieben werden. Einwanderungsströme aus Europa überquerten den großen Teich, um ihr Glück in einem unbekannten Kontinent zu suchen und lösten damit eine erste Globalisierungswelle aus. Innerhalb von knapp 250 Jahren Jahren hat das Land mit all seinen Widersprüchen, seiner Vielfalt und mit einem durch nichts zu erschütternden nationalen Selbstbewusstsein es geschafft, zu einer Weltmacht zu werden.
Das 20. Jahrhundert ist längst als „amerikanisches Jahrhundert“ in die Geschichtsbücher eingegangen. Die USA haben die Welt geprägt und verändert wie zuvor nur das Britisch Empire oder das römische Reich im Altertum. Die wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft der USA nahm ihren rasanten Aufschwung schon nach dem ersten Weltkrieg. Amerikanische Großkonzerne begannen weltweit zu agieren und die US-amerikanische Politik bereitete sich, wenn auch zögerlich und unter vielen Widerständen, auf die Rolle der USA als „Weltpolizist“ vor. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und in den Jahrzehnten des Kalten Krieges haben die USA diese Rolle politisch aktiv vorangetrieben. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die US-amerikanische Funktion als „Ordnungshüter“ weiter verstärkt.
Amerikanisierung
Das war die Zeit, in der sich der Begriff der „Amerikanisierung“ herausbildete. Er kann in gewisser Weise als Vorläufer der ökonomischen und politischen, aber vor allem auch der kulturellen Globalisierung gelten. Überall in der Welt, aber speziell in Deutschland veränderten und prägten die hier nach dem Krieg stationierten US-Soldaten das gesellschaftliche Miteinander und den Lebensstil. Jazz und Rock’n Roll, Blue Jeans und T-Shirts, MacDonalds und Kentucky Fried Chicken, Hollywood und Disneyland – der American Way of Life war das erste Markenzeichen der Globalisierung und so wie der amerikanische Dollar zur weltweiten Leitwährung wurde, so wurde Englisch zur weltweiten „Leitsprache“.
Parallel zum weltweiten Aufstieg wurden die Konflikte im Innern der USA ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer drängender. Der Krieg in Vietnam spaltete die Nation, die immer virulenter werdende Rassenfrage mobilisierte insbesondere die Jugend des Landes und wurde zu einer Bewährungsprobe für das nationale Selbstverständnis und zu einem weltweiten Aufbruchssignal. Auch im gesamten nordamerikanischen Kontinent blieb der US-Expansionismus nicht ohne Folgen. Mexiko und Zentralamerika, aber auch der nördliche Nachbar Kanada sahen sich zunehmend gefordert, eigene, nationale Interessen zu verdeutlichen. In den südlichen Ländern führte das expansive US-amerikanische Selbstverständnis zu bewaffneten Konflikten. Die größte Herausforderung stellte für die USA dabei die kubanische Revolution dar. Das von der Sowjetunion unterstützte Kuba wurde zum Staatsfeind Nummer 1. Die so genannte Kubakrise, die sozusagen im „Hinterhof“ der USA stattfand, führte die Welt im Oktober 1962 an den Rand eines Atomkrieges, der die erschreckendste und in jeder Hinsicht globalste Lösung eines globalen Konfliktes darstellt.
Hegemonie und Identität
Nicht nur die USA, sondern ganz Nordamerika verändert sich kontinuierlich. Das lässt sich an einigen Beispielen verdeutlichen: Während die Länder im Süden des Kontinents überwiegend spanisch geprägt sind, ist das nördliche Kanada ein klassisches Einwanderungsland für Menschen aus allen Erdteilen und aus unterschiedlichen Nationen. In diesem Zusammenhang wird der nordamerikanische Kontinent häufig als „Schmelztiegel“ bezeichnet, in dem unterschiedliche Kulturen und Völker zu einem neuen Ganzen verschmelzen. Gerade unter den Vorzeichen der weltweiten Globalisierung gibt es auch gegenläufige Entwicklungen. Waren die USA und mit ihr Nordamerika in ihren frühen Jahren vom Wunsch nach einer gemeinsamen Identität geprägt, ist es den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zunehmend wichtig, ihre historischen Wurzeln zu bewahren. Iren, Italiener, Chinesen, die Black Communities oder die Latinos begreifen sich als Amerikaner, bestehen aber auch auf ihrer eigenen Identität. In Kanada wird dieser Konflikt noch durch ein Erbe aus den Kolonialtagen verstärkt. In der ursprünglich französischen Kolonie strebt die französische Provinz Quebec seit Jahrzehnten nach Unabhängigkeit oder zumindest nach einer weitgehenden Autonomie. Gleichzeitig ist das Land weltweit eines der begehrtesten Einwanderungsländer. Toronto ist heute die wahrscheinlich multikulturellste Stadt der Welt und nicht von ungefähr eines der wichtigsten medizinischen Forschungszentren.
In einem so großen Kontinent wie Nordamerika gibt es tiefe ökonomische Gräben, die Kluft zwischen arm und reich ist groß. Alle mit der weltweiten Globalisierung verknüpften Probleme und Herausforderungen finden sich hier in konzentrierter Form in einem innerkontinentalen Nord-Süd-Konflikt, für den sich derzeit keine wirkliche Lösung abzeichnet. Immer mehr Menschen aus den wirtschaftlich schwachen Nationen im Süden drängen in die USA und nach Kanada. Dies führt an der mexikanischen Grenze schon seit Jahrzehnten immer wieder zu schweren Zwischenfällen. Die USA und Kanada stehen hier vor ähnlichen Herausforderungen wie die Europäische Gemeinschaft in den Mittelmeerländern.
Perspektiven der Globalisierung
Viele Jahrzehnte waren die USA so etwas wie die Vorreiter der Globalisierung. Sie haben die Welt verändert, ohne selbst übermäßigen Veränderungsdruck zu spüren. Das hat sich in den vergangenen Jahren gründlich geändert. Die weltweite Verflechtung von Abläufen und Prozessen im Zuge der Globalisierung führt zu einer Verschiebung von Gewichten und Vorrangstellungen. Auch die USA sind gefordert, sich im weltweiten Veränderungsprozess neu zu positionieren und amerikanische Belange im Licht globaler Entwicklungen neu zu bedenken. Außenpolitisch verlagern sich US-Interessen mehr und mehr in den asiatisch-pazifischen Raum. Dabei geht es um ökonomische, aber auch um sicherheitspolitische Fragen, die wesentlich vom rasanten Aufstieg Chinas mitbestimmt werden. Weitreichende Folgen hat auch die Veränderung der Bevölkerungsstruktur in den USA. Die jahrhundertelange Vorherrschaft der weißen Mittelschicht ist längst ins Wanken gekommen. Die weltweite Finanzkrise, die wesentlich von einer Immobilienkrise in den USA mit ausgelöst wurde, hat das soziale Gefälle im Land weiter verschärft. Die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Land haben sich gesellschaftlich emanzipiert. Seit dem Jahr 2008 steht mit Barack Obama ein Amerikaner mit afroamerikanischen Wurzeln als Präsident an der Spitze des Landes – eine Entwicklung, die noch am Ende des letzten Jahrtausends fast undenkbar schien. Wirtschaftlich unternehmen die USA derzeit ungewöhnlich starke Anstrengungen, neue eigene Öl- und Gasvorkommen zu erschließen. Ziel dabei ist es, sich wirtschaftlich unabhängig von Entwicklungen im Nahen Osten und von globalen Krisen zu machen. Politische Entscheidungen werden zunehmend von wirtschaftlichen Erfordernissen bestimmt. In einer globalen Welt haben vor allem die Länder Macht, die über Ressourcen verfügen. Das verdeutlicht auch ein Blick auf Grönland, die scheinbar unscheinbarste Insel des nordamerikanischen Kontinents. Dort werden riesige Rohstoffvorkommen vermutet, die durch Klimawandel und schmelzende Eisberge leichter zugänglich werden. Es scheint folgerichtig, dass Grönland ein Interesse daran hat, allein über seine Ressourcen zu verfügen. Die Bemühungen um staatliche Selbstständigkeit werden in den letzten Jahren verstärkt vorangetrieben. Vielleicht liegt am atlantischen Rand Nordamerikas eine wirtschaftliche Großmacht des 21.Jahrhunderts.