Dolchstoßlegende
Zu den Sachverhalten, die dazu beigetragen haben, das politische Grundklima in der krisengeschüttelten Weimarer Republik zu vergiften, gehörte insbesondere die „Dolchstoßlegende“. Kern dieser vorsätzlich von rechten Meinungsmachern lancierten Verschwörungstheorie war die Behauptung, dass der Erste Weltkrieg nicht militärisch von Deutschland verloren worden sei. Grund für die Niederlage der an der Front angeblich unbesiegten deutschen Truppen sei 1918 vielmehr Verrat und Defätismus kommunistischer, sozialdemokratischer und anderer Politiker gewesen. Dabei sollten jüdische Drahtzieher in Zusammenarbeit mit einer unterstellten jüdischen Internationalen hauptverantwortlich gewesen sein. Als eingängige Metapher für diese bei breiten Schichten der deutschen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fallenden Behauptung wurde das Bild des vom feigen Zivilisten hinterrücks durch Dolchstoß getöteten Frontsoldaten verbreitet. Entsprechende Plakat- , Buch- und Flugblattabbildungen wurden typisch für die Parteipropaganda im rechten Politspektrum.
Militärische Situation 1918
Ein Grund für die breite Akzeptanz der Dolchstoßlegende in der deutschen Bevölkerung war die Tatsache, dass deutsche Truppen Anfang 1918 den Krieg an der Ostfront gewonnen hatten und weite Teile des Staatsgebiets des zusammengebrochenen ehemaligen Zarenreiches besetzt hielten. Vor allem aber führte die Tatsche, dass die Westfront seit vier Jahren in Belgien und Frankreich verlief und kein ausländischer Soldat, abgesehen von dem kurzeitigen und rasch abgewehrten Vorstoß russischer Truppen nach Ostpreußen (1914), auf Reichsgebiet vorgedrungen war, zur Fehleinschätzung der militärischen Lage. Dieser Trugschluss war nicht zuletzt Ergebnis einer systematischen Desinformation durch die Kriegspropaganda der unter dem Kommando von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und dessen Generalquartiermeisters Erich Ludendorff stehenden Obersten Heeresleitung (OHL).
Die OHL
Die OHL hatte seit 1916 de facto die Stellung einer die Befugnisse von Kaiser Wilhelm II., von Reichsregierung und Reichstag ausschaltenden Militärregierung erhalten. In der hart unter den kriegsbedingten Menschenverlusten sowie den Einschränkungen in der Versorgung leidenden Zivilbevölkerung herrschte das Meinungsbild vor, dass nach dem Sieg im Osten durch eine letzte Kraftanstrengung tatsächlich noch ein militärischer Gesamtsieg gegen die ähnlich erschöpfen Kriegsgegner oder doch zumindest ein den Vorkriegsstatus sichernder Verständigungsfriedensschluss erreichbar sei. Tatsächlich waren die materiellen und psychischen Reserven des Hauptkriegsgegners Frankreich an ihre Grenzen gekommen. So hatte das französische Oberkommando 1917 nur mit Mühe eine Massenmeuterei unter Kontrolle bringen können. Auch Großbritannien, der andere deutsche Hauptgegner, war schwer angeschlagen, aber nicht zuletzt wegen seiner Überlegenheit auf See und erheblicher Reserven an Kolonialtruppen weit entfernt vom militärischen Zusammenbruch. Mit dem Kriegseintritt der USA im April 1917 auf Seiten der Entente war zudem absehbar, dass sich die Gewichte in der militärischen Patt-Situation an der im äußerst verlustreichen Stellungskrieg erstarrten Front zugunsten der Kriegsgegner Deutschlands verschieben würden.
Die OHL versuchte durch Offensiven mit nur noch bedingt einsatzfähigen Divisionen in Frühjahr und im Sommer 1918 noch einmal den Sieg zu erzwingen, scheiterte aber an den wegen der US-Unterstützung zunehmend überlegen auftretenden gegnerischen Kräften. Mitte August 1918 gestand die OHL nach vernichtenden Niederlagen im Raum Amiens intern die Aussichtslosigkeit der deutschen Position ein. Die deutschen Truppen mussten sich laufend auf neue Linien zurückziehen, konnten aber bis zum Waffenstillstand am 11. November 1918 die Front größtenteils noch halten. Die Anfang November 1918 in deutschen Kriegshäfen ausbrechenden Matrosen-Meutereien waren zwar für die weitere politische Entwicklung des Deutschen Reiches von erheblicher Bedeutung, spielten aber wie die vereinzelten Streiks in der Waffenindustrie für die militärische Lage an der Westfront keine wesentliche Rolle.
Der Waffenstillstand von Compiegne 1918 und der Vertrag von Versailles 1919
Am 29. September 1918 verlangte Ludendorff von Kaiser, Reichstag und Regierung eine Waffenstillstands-Initiative gegenüber der Entente, um die ansonsten unausweichliche Zerschlagung der deutschen Armee zu verhindern. Damit wälzte Hindenburg, der zwei Jahre als Quasi-Diktator die maßgeblichen Linien der deutschen Expansions-Politik und Kriegsführung bestimmt hatte, die Verantwortung für die militärische Niederlage von der OHL auf die Reichstagsmehrheit von SPD, USPD und gemäßigten bürgerlichen Parteien ab. Eine zivile Delegation unter der Führung von Matthias Erzberger (Zentrum) unterzeichnete am 11. November 1918 in Compiegne die vorgelegten, Erzberger hart erscheinenden, Waffenstillstandbedingungen. Vorher hatte Erzberger fernmündlich von Reichskanzler Ebert (SPD) dessen Zustimmung zur Unterzeichnung eingeholt.
Ebert wiederum hatte sich vor dieser Zustimmung bezüglich der alternativlosen Notwendigkeit ins Einvernehmen mit Hindenburg gesetzt. Im darauf folgenden Jahr unterschrieb eine – wieder zivile – deutsche Delegation in Versailles unter Protest am 29. Juni einen Friedensvertrag, der zur zentralen Hypothek für die Weimarer Republik werden sollte. Das Deutsche Reich musste nicht nur erhebliche Gebietsabtretungen, enorme Reparationen und massive Eingriffe in die Wehrhoheit akzeptieren, sondern auch das Zugeständnis der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Weltkriegs (Art. 231) machen.
Entstehung und Verbreitung der Dolchstoßlegende
Entscheidend für die flächendeckende Verbreitung der Dolchstoßlegende, die bereits vereinzelt 1918 aufgetaucht war, war der Auftritt Hindenburgs am 19. November 1919 vor dem „Kriegschuldfrage-Ausschuss“ der Nationalversammlung. Hindenburg stellte wider besseren Wissens die These auf, dass Zersetzung von außen die Moral der ansonsten siegfähigen Truppe entscheidend geschwächt habe. Die angebliche Meinung eines britischen Generals zitierend, stellte er fest, die deutsche Armee sei von hinten erdolcht worden. In Folge wurde die Dolchstoßlegende wie die Begriffe „Novemberverbrecher“, „Erfüllungspolitiker“ und „Judenrepublik“ zum festen Bestandteil des Kampfvokabulars konservativer und rechtsextremistischer Gruppen, die zum Teil auch nicht davor zurückschreckten, diesen Schlagworten massive Gewalt folgen zu lassen. Der katholische Zentrumspolitiker Matthias Erzberger und der jüdische liberale Politiker Walter Rathenau waren zwei von vielen mit dem angeblichen „Dolchstoß“ in Verbindung gebrachten Mordopfern rechter Gewalttäter.
Auch die beim „Münchener Dolchstoßprozess“, einem Beleidigungsverfahren, nach Anhörung des letzten OHL-Generalquartiermeisters General Groener, 1925 gerichtlich festgestellte Unrichtigkeit der Dolchstoßlegende änderte nichts an ihrer Bedeutung als rechter Propaganda-Slogan, der von DNVP, NSDAP und anderen Rechtsparteien zudem im besonderen Maße anti-semitisch aufgeladen wurde. Die Dolchstoßlegende hat wesentlich dazu beigetragen, die demokratische Ordnung in der Weimarer Republik und die sie tragenden gemäßigten Kräfte bei vielen Bürgern zu diskreditieren. Die Dolchstoßlegende war mitursächlich für die letztlich zu geringe Akzeptanz der neuen Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg und schwächte damit die Abwehrkräfte der Republik in ihrem Kampf gegen ihre radikalen Gegner.
Dolchstoßlegende nach 1933
In der NS-Propaganda wurde die Dolchstoßlegende auch nach dem 30. Januar 1933, an dem Legenden-Urheber Hindenburg in seiner Funktion als Reichspräsident dem NS-Führer Hitler die Macht im Deutschen Reich übergeben hatte, als historische Tatsache dargestellt. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 begründete die NS-Propaganda die massive Vergeltungsmaßnahmen gegen tatsächliche oder vermeintliche Verschwörer auch mit dem Hinweis auf die Verhinderung der Wiederholung des „Dolchstoßes von 1918“. Die Dolchstoßlegende wurde von den siegreichen Alliierten nach der deutschen Niederlage 1945 auch als eines von mehreren Argumenten ins Feld geführt, auf die Unterzeichung der bedingungslosen Kapitulation durch Wehrmachtsoffiziere zu bestehen. So sollte unter anderem einer neuen Dolchstoßlegenden-Bildung vorgebeugt werden.