Industrialisierung in Deutschland
In Deutschland fand die industrielle Revolution ein paar Jahrzehnte später als in England statt, ihr Beginn wird von Forschern auf das 2. Viertel des 19. Jahrhunderts datiert. Die Industrialisierung hat sämtliche Lebensbereiche der deutschen Gesellschaft unumkehrbar verändert und prägt sie maßgeblich bis heute. Ihre ökonomischen, sozialen und ökologischen Folgen beschäftigen die Bürger der Gegenwart und bestimmten ihren Alltag.
Die Frühphase der industriellen Revolution
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich Deutschland in verschiedener Hinsicht in einem noch recht zurück gebliebenen Zustand im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten. Es war nach dem Zerbrechen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in zahlreiche Kleinstaaten und Fürstentümer zersplittert, deren wirtschaftlicher Austausch durch Zölle und andere Regulierungen stark behindert wurde. Die deutsche Wirtschaft war in großem Maße agrarisch geprägt, wobei insbesondere der Ackerbau mit rückständigen Gerätschaften und Methoden betrieben wurde. Auch das deutsche Handwerk stand mit seiner strengen Zunftordnung einer Industrialisierung von Fertigungsprozessen eher im Weg.
Eine entscheidende Voraussetzung für die industrielle Revolution wurde mit der Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahre 1834 geschaffen, weil er innerhalb seines Geltungsgebietes den freien Austausch von Waren ermöglichte. Technisch gehörten mechanische Webstühle und Spinnmaschinen zu den ersten Innovationen, mit denen die Industrialisierung der deutschen Textilindustrie, insbesondere im Badischen und in der Region um Düsseldorf, ihren Anfang nahm.
Die Hochphase der industriellen Revolution
Allgemein wird die Revolution von 1848/49 als Beginn der dynamischsten Phase der deutschen Industrialisierung angesehen. Anders als bei der Industrialisierung Großbritanniens übernahm nicht die Textilindustrie die Vorreiterrolle, sondern vielmehr die Schwerindustrie. Stahlwerke, die Maschinenproduktion und der Bau von Eisenbahnen standen im Mittelpunkt der Industrialisierung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Dabei beschränkte sich der Bau neuer Fabriken zunächst vor allem auf Berlin sowie Mittel- und Ostdeutschland, während der Süden hinterher hinkte. Chemnitz wurde zu einem wichtigen Zentrum des Maschinenbaus, so wurde hier zum Beispiel bereits im Jahre 1848 die erste Fabrik in Deutschland eröffnet, die Werkzeugmaschinen herstellte.
Situation in Westdeutschland
Im Westen Deutschlands wurden im Ruhrgebiet die Förderung von Kohle und die Produktion von Stahl durch den Einsatz von Dampfmaschinen und anderen Innovationen wesentlich erleichtert, so dass dieses Gebiet schnell große wirtschaftliche Bedeutung erlangte.
In allen Wirtschaftszentren, die während der Industrialisierung Deutschlands entstanden, setzte sich die Aktiengesellschaft schnell gegenüber den althergebrachten Familienunternehmen oder Personenhandelsgesellschaften durch. Die Aktiengesellschaft konnte innerhalb kurzer Zeit eine große Menge an Kapital beschaffen, das die modernen Unternehmen für ihre umfangreichen Investitionen in technische Anlagen dringend benötigten.
Dabei handelte es sich nicht ausschließlich um das Eigenkapital der Anteilseigner, denn parallel zur Industrialisierung entwickelte sich auch ein modernes Bankwesen, das Unternehmen Großkredite in bis dahin noch nicht gekanntem Umfang zur Verfügung stellte. Um Produktions- und Absatzvorteile nutzen zu können, kam es auch in verstärktem Maße zum Zusammenschluss von mehreren Aktiengesellschaften zu Konzernen, die überregional tätig waren.
Der gesellschaftliche Wandel durch die Industrialisierung
Die Auswirkungen der industriellen Revolution auf die Gesellschaft führten zu deren grundlegendem Wandel innerhalb sehr kurzer Zeit und lösten mehr noch als die französische Revolution eine gesellschaftliche Neuordnung aus. Endgültig wurde nun der Adel aus den gesellschaftlichen Schlüsselstellen verdrängt, die im Zuge der Industrialisierung nahezu ausschließlich mit Angehörigen des Bildungsbürgertums und Unternehmern besetzt wurden. Dies war auch deswegen so revolutionär, weil mit dieser Entwicklung sich das moderne Leistungsprinzip zum ersten Mal durchsetzen konnte.
Über gesellschaftliches Ansehen und materiellen Wohlstand entschieden nicht mehr so sehr die Geburt und der vererbte Stand, sondern die individuelle Leistung. Um sich auf diese Weise durchsetzen zu können, wurde standardisierte Bildung unerlässlich, die am Gymnasium und an der Universität erworben wurde. Insbesondere das Studium des Ingenieurswesens wurde zu einer Schlüsselqualifikation.
Neue Oberschicht
Diese neue Oberschicht entwickelte ein eigenes Wertesystem und pflegte ein reges Kulturleben. Ihren Wohlstand drückte sie durch repräsentativen Konsum aus. Auf dem Land konnten sich die überbrachten Strukturen des Zusammenlebens noch lange halten, obwohl das rasante Bevölkerungswachstum und zunehmend geringer werdende Möglichkeiten des Hinzuverdienstes die Lebensbedingungen deutlich erschwerten.
Immer mehr Menschen, die in der Landwirtschaft kein ausreichendes Auskommen fanden, zogen deshalb in die Stadt. Dort entstand durch die Industrialisierung ein großes Heer an unterbezahlten Arbeitern, die mit ihren Familien in menschenunwürdigen Wohnverhältnissen leben mussten, wie zum Beispiel in Berliner Mietskasernen, in denen häufig vielköpfige Familien ein einziges, dunkles und feuchtes Zimmer bewohnten.
Die unerträglichen Daseinsbedindungen dieser untersten Gesellschaftsschicht machten eine zufriedenstellende Beantwortung der sozialen Frage immer drängender. Denn es wurde auch der herrschenden Schicht schnell klar, dass der Erhalt der Arbeitskraft des Proletariats sowie die Stabilität der gesamten Gesellschaft davon abhängen, akzeptable Lebensverhältnisse für die Arbeiterschaft zu ermöglichen. Die Arbeiterbewegung konnte in den folgenden Jahrzehnten dann auch zumindest einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen.
Die Nachwirkung der Industrialisierung
Die Industrialisierung hat das moderne Deutschland sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht erst möglich gemacht. Seine wirtschaftliche Stärke, aber auch seine sozialen und politischen Probleme, die im 20. Jahrhundert zu einer der größten Katastrophen der Menschheit führen sollten, hängen maßgeblich mit der Industrialisierung und ihrer unzureichenden Steuerung zusammen. Obwohl der Dienstleistungssektor in den letzten Jahrzehnten eine immer größere ökonomische Bedeutung gewonnen hat, spielen Schlüsselindustrien, wie der Maschinenbau oder die Automobilherstellung, immer noch eine entscheidende Rolle. Dasselbe gilt von vielen bürgerlichen Wertvorstellungen und Regeln, die erst langsam anfangen, zu verblassen. Als Beispiel mag hier nur die der Frau zugedachte Funktion als Hausfrau dienen.
Ein Fazit
Die Industrialisierung hat schlussendlich zu einer deutlichen Verbesserung des Lebensstandards aller Bürger in materieller Hinsicht geführt, auch wenn dies am Anfang für die Arbeiterschaft nicht der Fall war. Für diese Zunahme an Wohlstand durch die Industrialisierung muss allerdings in Form von Umweltverschmutzung ein sehr hoher Preis gezahlt werden. Die Industrialisierung hat zu einer bis dahin unvorstellbarer Belastung der Natur geführt, deren existenzbedrohlichen Folgen, wie zum Beispiel der globale Klimawandel, erst jetzt in ihrem ganzen Umfang erkennbar wird.