Amoklauf von Winnenden
Am 11. März 2009 kam es in der Albertville-Realschule in Winnenden sowie in der Umgebung von Winnenden zu einem Amoklauf. Dabei hat der Täter, der 17-jährige Tim Kretschmer, 15 Personen getötet, elf Menschen zum Teil schwer verletzt und am Ende einer mehrstündigen Flucht sich selbst gerichtet.
Morgens um 9.30 Uhr betrat Tim Kretschmer, 17 Jahre alt, bewaffnet mit einer Beretta 92, seine ehemalige Realschule in Winnenden. Die mitgeführte Waffe hatte er zuvor aus dem Schlafzimmer des Vaters, eines Sportschützen, entwendet. Tim Kretschmer stürmte in ein Klassenzimmer im Obergeschoss der Schule und erschoss dort die ersten fünf Kinder. Die Kinder wurden von dieser Aktion völlig überrascht, da sie, als man sie später tot auffand, zum Teil noch Schreibstifte in der Hand hielten. Der Amokläufer drang in das nächste Klassenzimmer ein, erschoss dort zwei weitere Schüler und verwundete mehrere. Auf dem Weg ins Krankenhaus starben zwei der verwundeten Kinder. Im Physikraum tötete er eine Lehrerin.
Um 9.33 Uhr ging bei der Polizei der Notruf ein. Bei der anschließenden Flucht aus der Schule erschoss Tim Kretschmer zwei weitere Lehrerinnen sowie einen Mitarbeiter vom nahe gelegenen psychiatrischen Landeskrankenhaus. Gegen 10 Uhr nahm der Amokläufer den Fahrer eines VW Sharan als Geisel. Er ließ sich zuerst nach Stuttgart fahren und von dort über die Bundesstraße Richtung Tübingen. Nachdem der Fahrer nach einem riskanten Bremsmanöver bei Wendlingen fliehen konnte, flüchtet der Amokläufer zu Fuß in Richtung Industriegebiet weiter. Um 12.15 Uhr betrat er dort eine Autowerkstatt und fordert einen Pkw. Als dieser ihm nicht ausgehändigt wurde, erschoss er einen Kunden und einen Mitarbeiter des Autohauses. Nachdem er über einen angrenzenden Parkplatz flüchtete, kam es zum Schusswechsel mit der Polizei. Dabei wurden zwei Polizisten schwer verletzt. Gegen 13.00 Uhr tötete sich der Amokläufer mit einem Kopfschuss selbst. Durch Tim Kretschmer verloren 15 Kinder und Erwachsene ihr Leben, 11 weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. An beiden Tatorten wurden 112 Schüsse durch den Todesschützen nachgewiesen.
Ein Land nimmt Abschied
Noch am Abend fanden sich vor der Albertville-Realschule in Winnenden zahlreiche Menschen ein, der Ort war erfüllt von Trauer. Es wurden unzählige Kerzen angezündet und Blumen zum Gedenken an die Opfer abgelegt. Am 17. März 2009 sprach die Familie von Tim Kretschmer allen Angehörigen der Opfer ihre Anteilnahme aus. Die zentrale Trauerfeier fand am 21. März 2009 in der katholischen Kirche von Winnenden statt. Diese Trauerfeier wurde für die vielen Trauergäste in das Stadion sowie in weitere Hallen und Kirchen von Winnenden übertragen. Auch der damalige Bundespräsident Horst Köhler kam zu den Trauerfeierlichkeiten. Ministerpräsident Günther Oettinger und die Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Stellvertreter Frank-Walter Steinmeier sowie die gesamte Landesregierung von Baden-Württemberg waren ebenfalls unter den Trauergästen. Nach dem Trauergottesdienst fand ein Staatsakt statt.
Deutschland diskutiert über das Waffengesetz
Nach diesem Amoklauf wurde im gesamten Land über das Waffenrecht diskutiert. Es wurden Forderungen gestellt, dass die Sportschützen ihre Waffen nicht in ihren Privathaushalten lagern dürften. Sämtliche Politiker und Parteienvertreter gaben daraufhin ihre Statements ab. Wolfgang Schäuble, 2009 Innenminister, vertrat die Meinung, dass durch ein strengeres Waffengesetz solch eine Tat nicht verhindert werden könne. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte dagegen unangemeldete Kontrollen in den Privaträumen der Sportschützen, ob alle Waffen ordnungsgemäß gelagert seien. Vertreter von den Parteien Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke forderten eine Beschränkung des Waffenbesitzes. Gleichzeitig veröffentlichten mehrere Opferfamilien ein Schreiben, in dem gefordert wurde, dass der Einsatz von Pistolen im Schießsport grundsätzlich zu überdenken sei.
Ebenfalls forderten sie, dass ein Verstoß gegen die Vorschriften zur Aufbewahrung von Waffen und Munition nicht nur als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat geahndet werden soll. In Berlin wurde am Tag des Amoklaufs eine Initiative gegründet, deren Ziel das Verbot tödlicher Sportwaffen ist. Zu den Gründern diese Gruppe gehörten namhafte Künstler sowie Hinterbliebene der Schulmassaker von Erfurt und Winnenden. Am dritten Jahrestag des Amoklaufes teilte das Regierungspräsidium von Stuttgart mit, dass die Zahl der registrieren Waffen in Baden-Württemberg um 15 % zurückgegangen ist und dass seit dem Verbrechen im März 2009 bisher 135.000 Waffen abgegeben wurden.
Rolle der „Killerspiele“
Auch das Thema Killerspiele wurde bundesweit lebhaft diskutiert. Bundespräsident Horst Köhler forderte die Gesellschaft und die Politik auf, gemeinsam gegen die Gewaltverherrlichung in Filmen und bei Computerspielen vorzugehen. Weiter wurde von den Opferangehörigen gefordert, dass der Jugendschutz im Netz verstärkt werden sollte, Killerspiele gänzlich verboten werden und das Fernsehen sollte Gewaltfilme nicht ausstrahlen. Hardy Schober, ein Opfervater, gründete gemeinsam mit anderen Eltern, die ihre Kinder bei dem Amoklauf verloren hatten, das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“. Mittlerweile hat sich das Bündnis zur „Stiftung gegen Gewalt an Schulen“ umfirmiert. Ziel dieser Stiftung ist es, dass großkalibrige Waffen in Privathaushalten grundsätzlich verboten werden und die Sportschützen ihre Waffen in gut gesicherten Tresoren in den Schützenheimen lagern müssen. Sie kämpfen auch für das Verbot von Killerspielen.
Die Landesregierung Baden-Württemberg eröffnete am 31. März 2009 den „Expertenkreis Amok“, der mit Fachleuten aus Politik, Wissenschaft, Schule, Jugendschützern, Polizei, Feuerwehr und Jugendamt besetzt war. Man wollte mehr über die Hintergründe einer solchen Tat erfahren, um mit gezielten Maßnahmen dagegen steuern zu können. Diese Kommission erarbeitete 83 Handlungsempfehlungen, um die Schule als Ort des sozialen Miteinanders erhalten zu können. Der daran anknüpfende Sonderausschuss hat weitere 39 Handlungsempfehlungen ausgearbeitet, die auf fünf Säulen stehen: Gewaltprävention, Waffenzugang, Gewaltdarstellungen in verschiedenen Medien, Sicherheitsmaßnahmen an den Schulen und die Stärkung des elterlichen Erziehungsauftrages.
Juristische Aufarbeitung
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat nach dem Amoklauf von Winnenden ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen gegen den Vater von Tim Kretschmer eingeleitet. Die Begründung lautete, dass der Vater des Amokläufers als Hobby-Schütze die Tatwaffe unverschlossen im elterlichen Schlafzimmer aufbewahrt hat, obwohl er von der depressiven Neigung seines Sohnes gewusst hatte. Am 10. Februar 2011 wurde er zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Dieses Urteil wurde jedoch vom Bundesgerichtshof im Frühjahr 2012 wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben. Die Begründung lautete, dass die Verteidigung keine Möglichkeit gehabt habe, die Familientherapeutin der Familie Kretschmer zu vernehmen. Die Sache wurde an das Landgericht Stuttgart zurückverwiesen. Das neue Urteil steht noch aus und soll Ende Januar 2013 gesprochen werden.
Auch die Stadt Winnenden stellt Ansprüche an den Vater von Tim Kretschmer. Sie fordert Schadensersatz in Höhe von 15 Mio. Euro. Der Betrag setzt sich aus den Kosten aller Folgeschäden zusammen. Dazu zählen zum Beispiel die Kosten für den Umbau der Albertville-Realschule, die zwischenzeitliche Containerschule und Kosten für Psychologen und Notfallseelsorger. Der Vater vom Amokläufer erwägt, juristisch gegen die psychiatrische Klinik vorzugehen, in der sein Sohn vor dem Amoklauf kurzfristig behandelt wurde, die Familie allerdings keinen Warnhinweis bezüglich des psychischen Zustandes ihres Sohnes erhalten habe. Beim Landgericht Heilbronn ist laut dem Anwalt des Vaters ein Klageentwurf eingereicht worden. Damit soll erreicht werden, dass die Haftpflichtversicherung der Klinik einen Teil der Schadensersatzforderung der Stadt Winnenden übernimmt. Nach dem Amoklauf ist die Familie von Tim Kretschmer aus Winnenden weggezogen und lebt seither mit einer neuen Identität an einem unbekannten Ort. Es wurden viele Kommissionen eingesetzt, beraten, verhandelt und verurteilt, aber es konnte bis heute die Frage nach dem „warum“ nicht beantwortet werden.