Ludwig Erhard
Mit dem Namen Ludwig Erhard werden oft Wendungen wie „Vater des Wirtschaftswunders“ und „Erfinder der sozialen Marktwirtschaft“ in Verbindung gebracht. Fotos zeigen einen wohlbeleibten, jovialen Zigarrenraucher, der zum Repräsentanten und zur Ikone des Wirtschaftsaufschwungs in der Bundesrepublik der 1950er Jahre wurde. „Wohlstand für alle“, so der Titel eines seiner Bücher, wurde zur Parole der deutschen Nachkriegsgeneration, die den Zweiten Weltkrieg möglichst rasch vergessen und die Früchte des so genannten deutschen Wirtschaftswunders genießen wollte. Bis der Nationalökonom und Wirtschaftspolitiker Erhard, zusammen mit Bundeskanzler Konrad Adenauer, oftmals aber auch in Rivalität mit ihm, zum „Gründervater“ der Bundesrepublik Deutschland wurde, hatte er allerdings schon einen langen Weg durch die Wirren der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgelegt.
Wechselfälle des Lebens
Ludwig Erhard wurde am 4. Februar 1897 als Sohn eines mittelständischen Textilwarenhändlers im fränkischen Fürth geboren. Nach dem Besuch der Realschule und dem Erwerb der Mittleren Reife, absolvierte er, ebenfalls in Nürnberg, eine kaufmännische Lehre. Der erste Weltkrieg bedeutete die erste Zäsur in seinem Lebensweg. Erhard trat als Artillerist dem 22. Bayerischen Artillerieregiment bei und wurde nach Einsätzen in Rumänien mit seiner Einheit an die Westfront verlegt. 1918 erlitt der junge Soldat bei Ypern in Westflandern eine schwere Verwundung und schied danach im Rang eines Unteroffiziers und als Offiziersanwärter aus der Armee aus. Tatkräftig nahm er bereits 1919 an der Handelshochschule Nürnberg ein Studium auf, das er als Diplomkaufmann abschloss.
Damit nicht genug: 1922 bis 1925 studierte er Wirtschaftswissenschaften und Soziologie in Frankfurt am Main und wurde mit der Arbeit „Die Bedeutung der Welteinheit“ promoviert. Dem wissenschaftlichen und gestalterischen Tatendrang waren zunächst noch Grenzen gesetzt: Nach dem Studium arbeitete er als Geschäftsführer im elterlichen Betrieb, der allerdings 1928 in den Strudel der beginnenden Wirtschaftskrise geriet und geschlossen werden musste. Im selben Jahr trat er dem „Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware“ bei – das war der Startschuss für seine eigentliche wissenschaftliche und öffentliche Karriere. Den Zweiten Weltkrieg und die nationalsozialistische Herrschaft versuchte Erhard wie viele andere möglichst „neutral“ zu überstehen. Als Wirtschaftsexperte war er 1940-45 im Auftrag der deutschen Zivilverwaltung für die lothringische Glasindustrie tätig. 1942 gründete er sein eigenes „Institut für Industrieforschung“. In einer 1944 verfassten Denkschrift mit dem Titel „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“ ging er bereits von der Tatsache aus, dass Deutschland den Krieg verlieren würde.
Steile Nachkriegskarriere
Die politische Karriere Ludwig Erhards begann mit den Gründerjahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Mitglied des bayerischen Kabinetts überzeugte er durch unumstrittene Expertise, zog mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland für die CDU in den Bundestag ein und avancierte zum Wirtschaftsminister im Kabinett Adenauer. Seine wirtschaftspolitische Maxime war der so genannte Ordoliberalismus, der vom Staat eine aktive Rolle beim Aufbau einer freien Marktwirtschaft fordert. Anders als ein reiner Marktliberalismus, wie er etwa von einflussreichen, zeitgenössischen Ökonomen wie dem Österreicher Friedrich Hayek oder dem Amerikaner Milton Friedman vertreten wird, weist das ordoliberale Denken dem Staat eine konkrete Rolle bei Aufbau, Entwicklung und Schutz des freien, nationalen Marktes zu. Voraussetzung dafür ist ein von Freihandel und ungehindertem Warenverkehr geprägter globaler Markt. Der Staat hat die Aufgabe, die ordnungspolitischen nationalen und außenpolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Freiheit der „Wirtschaftssubjekte“ sicherstellt und ihnen auch unter- und gegeneinander Schutz gewährt. Erst dann sei ein freier, sich regulierender Markt möglich. Die staatlich regulierte Ordnung arbeitet dem Markt zu, da der Markt Ordnung aus sich selbst heraus nicht schaffen kann. Das bedeutet aber keinen staatlichen Dirigismus und schon gar keine Planwirtschaft. Unter staatlichem Schutz agiert der Markt völlig ungehindert: Preisbildung, Produktion, Tarife und Löhne unterliegen keinerlei staatlichen Eingriffen und es gehört keineswegs zu den Aufgaben des Staates, die heimische Wirtschaft vor fremder Konkurrenz zu schützen.
Politisches Wirken
Die Zigarre war mittlerweile das unverwechselbare Markenzeichen von Ludwig Erhard geworden. Wie es heißt, konnten es pro Tag schon einmal fünfzehn bis zwanzig Stück sein und so ist es kein Wunder, dass es kaum ein Foto gibt, auf dem der gedrungene, immer ein wenig bärbeißig wirkende Mann „ohne“ zu sehen ist. Mit seiner konsequenten wirtschaftspolitischen Haltung stieß er nicht immer auf Gegenliebe. Kritik kam dabei von der damals noch stark sozialistisch orientierten SPD unter ihrem charismatischen Vorsitzenden Kurt Schumacher, aber durchaus auch aus dem eigenen Kabinett und zwar von höchster Stelle. Konrad Adenauer, der außenpolitisch energisch und mit allen Mittel die Westintegration und die deutsche Wiederbewaffnung durchsetzte, verstand sich innenpolitisch als moderater, von der katholischen Soziallehre geprägter Sozialpolitiker.
Der größte Konflikt zwischen dem liberalen Wirtschaftsmann Erhard und dem katholischen Sozialpolitiker Adenauer, war die vom Kanzler initiierte große Rentenreform, in deren Kern das Umlageverfahren – der so genannte „Generationenvertrag“ – stand. Erhard lehnte das Modell als nicht zukunftsfähig ab, aber der Kanzler, der gemäß Grundgesetz die Richtlinien der Politik bestimmt, setzte sich letztlich durch und wischte Bedenken mit der gewohnt adenauersch-rheinländischen Nonchalance beiseite: „Kinder kriegen die Leute sowieso.“ Nach heutigem Stand reichte hier Erhards Blick eindeutig weiter in die Zukunft.
Vom Wunder zur Krise
Anfang der sechziger Jahre zeichnete sich ab, dass auch das deutsche Wirtschaftswunder endlich war. Die erste große Rezession der Bundesrepublik warf ihre Schatten voraus. Im Ruhrgebiet geriet die einheimische Kohle- und Stahlindustrie, bislang Kern und Rückgrat der deutschen Wirtschaft zunehmend unter Konkurrenzdruck. Auch die große Konsumwelle der Fünfziger ebbte ab, die Arbeitslosenzahlen begannen zu steigen, parallel dazu nahm die Kaufkraft ab. Das Kabinett Adenauer und der greise Kanzler selbst zeigten deutliche Abnutzungserscheinungen.
Nach Adenauers Rücktritt wurde Erhard im Oktober 1963 zu dessen Nachfolger gewählt. Als Kanzler machte Erhard eine denkbar unglückliche Figur. Der einst so erfolgreiche Wirtschaftspolitiker musste über Nacht für alle Pleiten und Pannen der deutschen politischen Entwicklung gerade stehen. Die Strukturkrise im Bergbau beschleunigte sich, im Ruhrgebiet und an der Saar begann das großen Zechensterben, die Wirtschaft geriet immer weiter ins Trudeln, die Arbeitslosenzahlen stiegen. 1966 erhöhte der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson unter dem Druck des Vietnamkrieges die Reparationsforderung an Deutschland. Satte 1,35 Milliarden Dollar mehr, für damalige Verhältnisse eine geradezu abenteuerliche Summe, wollte der Texaner zusätzlich haben. Für den Atlantiker Erhard war diese 1966 erhobene Forderung ein besonders harter Schlag. Hatte er doch zusammen mit seinem Außenminister Schröder die Amerikabindung Deutschlands energisch vorangetrieben und dafür sogar eine Abkühlung der gerade erst ausgerufenen Deutsch-Französischen Freundschaft in Kauf genommen. Am ersten Dezember 1966 trat Erhard zur Erleichterung seiner eigenen Partei als Kanzler und CDU-Vorsitzender zurück und machte den Weg frei für die Große Koalition unter seinem Nachfolger Kurt Georg Kiesinger und dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt, der drei Jahre später der erste SPD-Kanzler der Nachkriegsrepublik wurde.
Ein Mann von gestern
Ludwig Erhard blieb auch nach seinem Rücktritt als einfaches Mitglied dem Bundestag erhalten, war aber fast über Nacht zu einer historischen Figur geworden und spielte in der weiteren Entwicklung der bundesrepublikanischen Politik keine Rolle mehr. Er und seine Zigarre standen zusammen mit Gogo und Nierentisch, mit Rudolf Prack, Sonja Ziemann und dem deutschen Heimatfilm für den Erfolg, aber auch den Muff und die falsche Idylle der fünfziger Jahre. Die von Ludwig Erhard mit geprägter Politik erwies sich dennoch als widerstandsfähig und dauerhaft. Westintegration und freie Wirtschaft, Marktliberalismus in einem starken Staat – all dies wurde zwar einige Jahre später von den Studentenrevolte nachdrücklich in Frage gestellt, blieb in ihren Grundfesten jedoch lange Zeit unerschüttert. Eine nachhaltige Veränderung der wirtschaftspolitischen Ausrichtung blieb dem viele Jahre später virulent werdenden Neoliberalismus vorbehalten.
Ludwig Erhard starb im Mai 1977 in Bonn. In einer von ständigem Wandel bestimmten, globalen Welt ist er uns heute als fast altväterliche Figur sehr fern gerückt. Die neue Zeit steht vor Problemen und Herausforderungen, die in den wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Entwürfen Erhards noch nicht vorgesehen waren. Ludwig Erhard war Realpolitiker, der seine Zeit mit Ideen und tagespolitischer Tatkraft prägte, aber er war kein Visionär. Trotzdem sind seine Verdienste um den wirtschaftlichen Aufschwung und die anhaltende Prosperität der Bundesrepublik Deutschland auch in der heutigen globalen Welt unbestritten.